Dr. Paul Dahlke
Eine Lebensskizze
von Kurt Fischer (Privatsekretär von Dr. Paul Dahlke)
Dr. Paul Dahlke wurde am 25. Januar 1865 in Osterode in Ostpreußen geboren. Schon in früher Jugend im Hause seiner Eltern lernte er das Leben von seiner ernsten Seite kennen.
Der Vater war Beamter, und die kinderreiche Familie war auf ein recht bescheidenes Gehalt angewiesen, so daß schon damals Beschränkung und Verzicht zur Lebensweise der Familie gehörten, wie das in preußischen Beamtenfamilien so die Regel war.
Nach den ersten Jahren auf der Elementarschule besuchte Paul Dahlke das Gymnasium in Frankfurt a. M. Nach dessen Absolvierung widmete er sich dem Studium der Medizin, um sich sehr bald nach Ablegung des Staatsexamens der Homöopathie zuzuwenden, in der er instinktiv die seiner Anlage am meisten angemessene Heilmethode erkannte.
Dr. Dahlke gehörte zu den Ärzten, die nicht „Mediziner“, d. h. Vertreter der medizinischen Wissenschaft sind, sondern wirkliche Heiler, wie das Wort „Arzt“ (aus dem griechischen Archiatros = Erzheiler) es sagt. So kam es, daß schon der ganz junge Arzt außerordentlichen Erfolg hatte und sein Ruf sich frühzeitig über den Ort seines Wirkens, Berlin, weit hinaus erstreckte!
Doch der Geist Dr. Dahlkes war zu lebhaft und wirklichkeitsnah, als. daß sein Wirken sich auf die ärztliche Tätigkeit allein hätte beschränken können. Es trieb ihn über die Grenzen des Alltäglichen hinaus in geistige Gebiete, die abseits von der Berufstätigkeit lagen. Was für seine ungewöhnlichen Fähigkeiten als Arzt von großer Bedeutng war: der klare, in diesem Maße so selten zu findende Wirklichkeitssinn, das wurde auch die Veranlassung dafür, daß Dr. Dahlke sich nach anfänglich mehr äußerlichem Interesse für die religiösen Ideen und Lehren des Östens
mehr und mehr zur Lehre des Buddha hingezogen fühlte, Die Schriften Schopenhauers hatten den ersten Anstoß gegeben, über den Dr. Dahlke aber in unermüdlichem Suchen und Forschen bald hinauswuchs.
Wir können nichts besseres tun, als die Worte hier wiedergeben, mit denen Dr. Dahlke selbst über seine Begegnung mit dem Buddhismus und deren Auswirkung auf ıhn spricht:*)
„Der Buddhismus ist nicht in Form einer Erschütterung, eines entscheidenden Ereignisses in mein Leben getreten. Langsam, unmerklich, wie das Samenkorn im Acker, hat er Wurzel gefaßt und ist gewachsen. Als ich im Jahre 1898 meine erste große Reise antrat, da kannte ich den Buddhismus schon mehrere Jahre, aber trotzdem war das Ziel meiner Sehnsucht damals nicht Indien, sondern die Südsee. Tahiti und Oweihi, wie sie sich ın den Schilderungen Chamissos darstellten, lockten mich mehr als alle Weisheit Indiens, und als ıch im Jahre 1898 in Apia auf den Samoa-Inseln landete, da erschien mir das als die höchste Erfüllung meines Lebens.
Nach etwa einem Jahre kehrte ich nach Hause zurück, und das Buddhawort muß heimlich, in der Stille in mir weitergearbeitet haben, denn schon das Jahr darauf, 1900, ging ich wieder auf die Reise, jetzt mit dem ausgesprochenen Ziel: Indien, und nicht nur Indien, sondern Buddhismus!
Im Frühjahr 1900 kam ich nach Colombo und hatte das große Glück, gleich gute Unterweiser und Einführer in die Lehre zu finden: der damals schon alte, aber geistig noch erstaunlich frische SriSumangala in Maigakanda-Vihara, einem Vorort Colombos; dessen erster Mitarbeiter, der Thera Nyanissara, der später, nach Sri Sumangalas Tode, an dessen Stelle rückte, und der leider auch bereits gestorben ıst; sodann der junge Suriyagoda Sumangala ın Sri Vardhanarama (Colpetty), mit dem mich seitdem beständige enge Bekanntschaft verbunden hat, und endlich der Pandit Wagiswara, der damals in Payagala, an der Südküste, als Schullehrer lebte, und dem ich bezüglich der ersten Einsicht wohl am meisten verdankte, weil er derjenige war, der sich westlicher Anschauung am besten anpassen konnte, der überdies der englischen Sprache mächtig war, was unter den Mönchen nur bei Suriyagoda Sumangala der Fall war.
Das Jahr 1900 war somit das meines offiziellen Eintritts in den Buddhismus und seine Lehre. Seit jener Zeit bin ıch in einem beständigen Hin- und Herpendeln zwischen Indien und meiner deutschen Heimat geblieben, meist krank, teils durch die Schuld des Klimas, teils durch meine eigene Schuld, meist unbefriedigt durch dieses ruhelose Wandern, und doch ımmer wieder nach Indien zurückgezogen.“
Das äußere Ergebnis des Hineinwachsens in den Dhamma war eine Reihe von Schriften, deren eigentlicher Wert darin besteht, das buddhistische Denken dem Europäer und seiner Anschauungsweise zugänglich zu machen. Wir nennen als die wichtigsten: Das Buch vom Genie, Buddhismus als Weltanschauung, Buddhismus als Religion und Moral, Der Buddhismus und seine Stellung innerhalb des geistigen Lebens der Menschheit, Heilkunde und Weltanschauung und, als letztes Werk, Buddhismus als Wirklichkeitslehre und Lebensweg. Sodann auch Werke erzählenden Inhalts: Buddhistische Erzählungen, Aus dem Reiche des Buddha, Das Buch Pubbenivasa.
Die meisten dieser Werke wurden ins Englische übersetzt; auch holländische und japanische Übersetzungen sind entstanden.
Es gibt immer wıeder einmal Menschen von außerordentlicher Tatkraft und klarer Zielbewußtheit, verbunden mit genialem, schöpferischem Denken. Alle sogenannten „Großen“ gehören zu ihnen. Nicht einer aber in der ganzen europäischen Geistesgeschichte nimmt eine solche Stellung ein, wie sie Dr. Paul Dahlke gebührt. Nicht allein ein unerhörtes Maß von Energie, gepaart mit scharfem Intellekt ebenso wie künstlerisch-schöpferischem Denken und Empfinden war ıhm eigen, sondern was seine eigentliche Bedeutung ausmacht, das ist der über alle Konvention hinausgehende klare Sinn für Wirklichkeit im Zusammenhang mit den vorher genannten Eigenschaften, und als Ergebnis dieses so einzigartigen Zusammenklanges eine Neigung zu innerer Reinheit, die auch vor der letzten Folgerung nicht zurückschreckte.
Bis zum Jahre 1914 hatte Dr. Dahlke zahlreiche Reisen ın aller Herren Länder unternommen; er selbst sagte einmal scherzhaft: „Ich bin wie ein Komer durch die Welt gesaust“. Die stärkste Anziehungskraft übten immer wieder die Stätten alter buddhistischer Kultur, vor allem Ceylon, auf ıhn aus. Kurze Zeit vor Ausbruch des Weltkrieges war Dr. Dahlke nach Deutschland zurückgekehrt, und infolge der durch den Kriegsausbruch veränderten Lebensbedingungen sah er sich auf seine Heimat Deutschland beschränkt. Die ın den letzten Jahren völlig aufgegebene ärztliche Praxis wieder aufzunehmen, schien der einzige Weg, um sich den Verhältnissen anzupassen, und bald war in den Kreisen seiner alten Patienten bekannt, daß Dr. Dahlke sein großes ärztliches Können wieder den Leidenden zuteil werden lasse.
Mehr und mehr wuchs aber in Dr. Dahlke die Erkenntnis, daß dem Westen nichts notwendiger sei als wirkliches Verständnis für den Buddhismus. Hatten seine früheren Schriften schon diesem Zweck gedient, so sah Dr. Dahlke jerzt die Notwendigkeit, wirklich buddhistische Übersetzungen in deutscher Sprache zu schaffen. Wenngleich es eine ganze Reihe Übersetzungen der Palitexte in Deutschland gab, so waren doch fast alle, vor allem die bekanntesten von Neumann, nicht ohne fremde gedankliche Beimischung. So entstanden die Übersetzungswerke des Dhammapada, des Digha-Nikaya und eines Teils des Majjhima-Nikaya. Diese Bücher waren nicht nur Übersetzungen, sondern zugleich Lehrbücher, indem der Verfasser in ausführlichen Erläuterungen das Ergebnis seiner eigenen jahrzehntelangen Arbeit an sich selber im Dienste der Buddhalehre niederlegte. Damals entstand auch seine „Neu-Buddhistische Zeitschrift“, die in einzigartiger und immer wieder neu afiregender Weise zeigte, wie der Buddhismus als wichtiges und richtunggebendes Moment alle Fragen des Lebens ausschlaggebend beeinflußt bzw. beeinflussen kann.
Einem so sehr auf Verwirklichung dessen, was er als wahr erkannt hatte, eingestellten Geist konnte aber auf die Dauer die bloß literarische Tätigkeit für die Sache des Buddhismus nicht genügen. Bald entstand der Plan eines „Buddhistischen Hauses“, das einen Sammelpunkt für solche Menschen bilden sollte, die mit der ihnen anerzogenen Religion des Westens nicht mehr im Einklang leben konnten, und die doch auch fühlten, daß der Weg des Materialismus nicht der wahrhaft menschenwürdige sei.
Einige Jahre nach Kriegsende, als gerade die schwerste Erschütterung durch die Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte, bot sich in einem sehr günstig gelegenen, waldigen Gelände von etwa ız Morgen in Berlin-Frohnau die Gelegenheit zur Verwirklichung dieses Planes. Unter Aufopferung seiner ganzen Kraft stellte sich Dr. Dahlke in den Dienst dieser großen Idee: eine Stätte für den Buddhismus in Deutschland zu gründen.
Mit welchen Schwierigkeiten das Werk ganz allmählich zustande kam, mag man daran ermessen, daß durch die Inflation das ganze Vermögen aus früherer Zeit fast gänzlich zerstört war, und die Mittel für den Bau von Tag zu Tag durch intensive Arbeit in der ärztlichen Sprechstunde. erst geschaffen werden mußten. Dennoch — Dr. Dahlke hatte seinen Entschluß gefaßt und war bereit, ihn unter allen Umständen durchzuführen. Das Buddhistische Haus war im August 1924 so weıt gediehen, daß Dr. Dahlke es mit einigen wenigen seiner Schüler beziehen konnte. Nach seiner Idee sollte das Haus ein Denkmal für die Lehre werden, und es tauchten immer wieder neue Pläne auf, die zum weiteren Ausbau der begonnenen Anlage führten. Außer dem ursprünglichen Haus, das neben den notwendigsten Räumen die Bibliothek enthielt, entstand ein Versammlungssaal, und ın weiteren An- und Neubauten wurden Möglichkeiten zur Aufnahme von Gästen geschaffen, Personen, die hier für einige Zeit Sammlung und Belehrung im buddhistischen Sinne suchten. Es entstand auch die „Klause“ als ein Raum für Meditation im streng mönchischen Sinne.
Das Buddhistische Haus sollte eine Stätte der inneren Reinheit sein, soweit dies überhaupt bei einem Kompromiß zwischen der Idee des Brachmacariya und den Verhältnissen im Westen möglich war. Es konnte kein Kloster sein, weil die materiellen und ideellen Voraussetzungen dazu fehlten; so war das Haus als eine Zwischenstufe zwischen Wohnhaus und Kloster gedacht. Die fünf Sılas als Grundlage der Lebensführung, das Streben des Einzelnen nach innerer Reinigung sollten dem Buddhistischen Hause seinen Charakter aufdrücken. Was das für die Verhältnisse ım Westen bedeutet, vermag nur derjenige richtig einzuschätzen, der ın diesen Verhältnissen lebt. Hier, wo die Lebenssucht und der Kampf ums Dasein unerhört brutale Formen angenommen haben, die seit dem Weltkrieg in immer weiteren Ausmaßßen um sıch greifen, ist es wie der Kampf eines kleinen Bootes gegen die haushohen Wogen der stürmenden See.
So ist es denn nicht zu verwundern, daß die Kräfte Dr. Dahlkes in der Arbeit für das Buddhistische Haus im Verlaufe der letzten Jahre völlig verbraucht wurden. Manchmal sprach Dr. Dahlke wohl davon, wie schlecht sein Herz beschaffen sei, und daß er ohne das Maß von Sammlung, das er dem Buddhismus verdanke, längst nicht mehr arbeiten könnte. Seit etwa einem Jahre quälte ihn eine Erkältung, deren er nicht mehr Herr werden konnte. Und immer wieder war es der Gedanke an die große Sache des Buddhismus und an neue Pläne, der ıhn, den Schwerkranken, aufs neue über gefährliche körperliche Krisen hinwegbrachte. Der Gedanke der Gründung eines Viharas auf der Insel Sylt in der Nordsee und neue literarische Pläne beschäftigten ihn unablässig. Der Tod hat nichts mehr davon zur Auswirkung kommen lassen. Die Kräfte reichten auch nicht mehr dazu aus, um das bisher Fertiggestellte für die Zukunft einigermaßen sicherzustellen. Seit Anfang des jahres 1928 trat ein immer stärker werdender Kräfteverfall ein, und am 29. Februar 1928 har Dr. Dahlke die Stätte seines Wirkens für ımmer verlassen.
Bisher ist in der Öffentlichkeit kaum der Versuch gemacht worden, die Bedeutung dieser einzigartigen Persönlichkeit für das europäische Geistesleben zu würdigen. Möge die Zeit bald kommen, die für das Streben dieses Mannes das Verständnis hat, das ihm gebührt.
Was die Schöpfung der letzten Lebensjahre Dr. Dahlkes betrifft: das Buddhistische Haus, so hat dieErfahrung uns gelehrt, sowohl an uns selber als auch an andern Menschen, daß die Durchführung der Idee in dem Ausmaß, wie sie sich dem Erbauer des Hauses ursprünglich darstellte, unsere Kräfte unter den äußeren und inneren Bedingungen, unter denen wir leben, vorläufig übersteigt. Das finder seinen Ausdruck schon darin, daß sich die finanziellen Mittel, das Buddhistische Haus in seinem bisherigen Umfange zu halten, nicht haben schaffen lassen. Bei uns im Westen ist für die reine Lehre des Buddha noch wenig Platz. „Gut Ding will Weile haben“, sagt das Sprichwort, und dieses Wort gilt sicherlich in erster Linie für eine so hohe Entwicklung, wie sıe dıe Buddalehre verlangt.
Damit soll nicht gesagt sein, daß wir vor unseren eigenen Schwächen einfach kapitulieren wollen, indem wir sagen: „Ich bin nun einmal so.“ Dann dürften wir uns nicht Buddhisten nennen.. Damit soll auch nicht gesagt sein, daß wir allerlei Verflachungen und Deutungen des Buddhawortes Raum geben. Wer den Buddha verstanden hat, weiß, daß es für das Denken keine Kompromisse gıbt; daß alle Fäden, die uns mit dem Kosmos immer wieder neu verbinden, durchschnitten werden müssen. Aber gerade derjenige, der ernsthaft versucht, diese Aufgabe durchzuführen, wird merken, daß Anlagen schwer zu überwinden sind. Das hat auch unser Lehrer Dr. Dahlke gesagt. Hier bewahrheiter sich das Wort: natura non facit saltus, die Natur macht keine Sprünge. Hier muß jeder selbst seine Erfahrungen sammeln in dem immer wieder erneuten Versuch zur Sammlung auf sıch selber.
Daß wir diese Aufgabe klar erkannt haben, das verdanken wir Dr. Paul Dahlke als dem einzigartigen Interpreten des Buddhawortes ım Westen. Daß unsere Kraft zur Durchführung dieser schweren Aufgabe auch bei unserer eigenen Mangelhaftigkeit mehr und mehr wachsen möge, darauf setzen wir unsere Hoffnung, und dahin wollen wir auch weiterhin streben.
K. F.
(Kurt Fischer)
Quelle: Buddhistisches Leben und Denken 1930, S. 12-18